Ulrike Lichtinger lehrt und forscht an der Internationalen Hochschule (IU) in Regensburg. Sie kennt die Bildungslandschaften vieler Regionen in Europa und ist weltweit gut vernetzt. Während ihrer Zeit als Vizerektorin der PH Vorarlberg hat sie auch viele Schulen in unserem Land näher kennengelernt. Wir wollten ihren Blick auf Vorarlberg – die Stärken und Potenziale unserer Schulen – genauer einfangen. Das Gespräch haben wir für Sie zusammengefasst.
Marke Vorarlberg: Wir in Vorarlberg arbeiten an der Vision „2035 ist Vorarlberg der chancenreichste Lebensraum für Kinder“. Sie haben einmal gesagt, dass die Vorarlberger Schulen in der Beziehungsarbeit bereits weit fortgeschritten sind. Wie haben Sie das gemeint?
Prof. Lichtinger: Eure Arbeit an der Vision 2035 finde ich zukunftsweisend und zutiefst human – eine Entwicklung, die seit einigen Jahren dringend gebraucht wird und deren Dringlichkeit sich durch die Pandemie noch verstärkt hat. Was die Beziehungsarbeit und den Blick auf die Kinder bzw. die Menschen im System Schule betrifft, so erinnern Sie sich ganz richtig. Das habe ich gesagt, weil ich es immer wieder an den Schulen in Vorarlberg so erlebt habe. Und ich habe dazu natürlich auch ein paar Erklärungen entwickelt, die mir in Anbetracht der weiteren Entwicklungen in der Zwischenzeit logisch erscheinen.
Marke Vorarlberg: Welche Erklärungen könnten das sein?
Prof. Lichtinger: Es handelt sich hier um subjektive Erklärungen – empirisch kann ich es nicht belegen. Aber ich habe in Vorarlberg sehr viele Lehrpersonen an den Schulen kennengelernt, denen Beziehungsarbeit ein großes Anliegen ist. Dies ist entscheidend für das Wohlbefinden der Schüler*innen und Lehrenden. Jeden sehen und dafür sorgen, dass es jedem/jeder gut geht, das habe ich in Vorarlberg als Grundstimmung an Schulen immer wieder erleben dürfen
Marke Vorarlberg: Sie kennen auch andere Regionen und haben einmal gemeint, dass wir im Vergleich schon recht weit vorne liegen.
Prof. Lichtinger: Durch meine Forschungstätigkeiten kenne ich viele Schulen in Berlin, Rheinland-Pfalz, Luxemburg, Bayern, Wien, Niederösterreich und Salzburg recht gut. Ich habe beobachtet, dass Vorarlberg in Sachen Beziehungsarbeit ganz weit vorne liegt. Die Frage „Wie können wir jeden und jede mitnehmen?“ steht bei euch schon sehr klar im Fokus. Diese Haltung ist bei euch schon früh gewachsen. Andere Regionen arbeiten in dieser Hinsicht eher zeitverzögert.
Eine zweite Beobachtung möchte ich hier teilen: Die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Gemeinden. Wenn man sich eure Schulen ansieht – besonders Volksschulen und Mittelschulen – sieht man, wie hoch der Anspruch oftmals an die Räumlichkeiten ist. Da entdeckt man wahre Wohlfühlorte. Man lernt Bürgermeister*innen kennen, die bereit sind, 30-40 Millionen Euro in ihre Schule zu investieren. Das ist zukunftsorientiertes Denken und Handeln. Ich sehe, dass ihr eine Vision habt. Ihr handelt von der Zukunft her.
Marke Vorarlberg: Viele Lehrende stört es, dass die Notengebung seit einigen Jahren wieder von Anfang an Pflicht ist. Sie erzählen uns immer wieder, dass sie sich durch diese Pflicht in ihrer Beziehung zu den Schüler*innen gestört fühlen.
Lichtinger: Die Notengebung von der ersten bis zur achten Schulstufe ist wirklich nicht unterstützend. In der Primar- und in der ersten Hälfte der Sekundarstufe brauchen Kinder eine andere Form der Rückmeldung. Es gibt eine Studie, die belegt, dass ein Viertel der Schüler*innen in der dritten Schulstufe bereits ein negatives Schulselbst entwickelt hat. Mir gefällt in dieser Hinsicht der skandinavische Schultyp sehr gut. Hier werden Noten erst in der zweiten Hälfte der Sekundarstufe vergeben.
Marke Vorarlberg: Gibt es denn dort gar keine Kompetenzmessung?
Lichtinger: Doch, auf jeden Fall! Die Kompetenzen werden sogar sehr genau dokumentiert und gemeinsam besprochen.
Marke Vorarlberg: Was beobachten Sie noch am Vorarlberger Bildungssystem?
Lichtinger: Da gibt es eine Reihe an interessanten Playern, die sich um gute Vernetzung und Sichtbarmachung bzw. Wertschätzung des Geleisteten bemühen. Sei es das Frei-Day-Lernformat oder die Sindbad-Initiative oder die Marke Vorarlberg – überall stehen Menschen dahinter, die Mut machen. Natürlich stechen auch einzelne Schulen heraus, wie zum Beispiel die Schule am See in Hard – das ist eine unglaublich innovative Pädagogik! Auch die Schulqualitätsmanagerinnen oder die Menschen vom Landhaus sind auf Empowerment ausgerichtet. In anderen Regionen erlebe ich das manchmal recht „top down“. Das würde in Vorarlberg wahrscheinlich gar nicht funktionieren. Das ist einfach ein sehr starkes Mindset, das ihr da vorantreibt. Wir leiden ja alle an einer Negativitätsverzerrung, sprich, wir nehmen die negativen Informationen viel stärker wahr, als die positiven. Von daher habt ihr recht, in Vorarlberg arbeiten viele Player in unterschiedlichsten Kontexten an einer positiven Bildung. Das ist ein Schatz, den ihr da habt!
Marke Vorarlberg: Sie haben das Mindset angesprochen. Was genau meinen Sie damit?
Lichtinger: Aus der positiven Bildung wissen wir, dass utopisches Denken wichtig ist. Um eine Bildung der Zukunft zu gestalten, braucht es sogenannte „everest goals“, Ziele, die uns zunächst unerreichbar, unrealistisch erscheinen, Das ist es auch, was Martin Seligman mit „von der Zukunft her denken“ meint. Wer das geübt hat, muss dann schon auch im Anschluss in eine ganz klare Struktur kommen. Erreichbare Ziele sind schließlich wichtig für das Wohlbefinden, sie ermöglichen uns, bei Zielerreichung zu feiern und uns zu freuen – das erzeugt positive Emotionen, die wiederum unser Engagement, neue Ziele anzugehen, unterstützen.
Marke Vorarlberg: Und wie wir wissen, ist das Wohlbefinden ja entscheidend für die Leistung und die Produktivität aller Menschen – nicht nur jenen in Schulen.
Lichtinger: Genau, von daher ist Vorarlberg anschlussfähig an Butan. Dort hat man das Glück eines jedes als wesentliches Ziel ausgerufen und schließlich auch gefordert, Schüler*innen zu unterrichten, wie sie aufblühen und glücklich werden können. Und genau das verfolgt ja auch Perma.teach, ein Konzept, das auch an der PH Vorarlberg angeboten wird.
Marke Vorarlberg: Wenn Sie die Stärken des Vorarlberger Bildungssystems auf drei Kernwerte herunterbrechen müssten, welche wären das?
Lichtinger: Erstens „Wohlbefinden für alle“, das heißt für Schüler*innen, Lehrende und im Aufbau auch für Eltern. Zweitens „Stärkenorientierung“, also die Ausrichtung an den Potenzialen der einzelnen und drittens das enge „Miteinander“. In dieser Verbundenheit ist ja auch viel Selbstwirksamkeit zu spüren. Und ihr in Vorarlberg seid schon sehr miteinander verbunden und stark vernetzt. Gleichzeitig seid ihr offen, für Menschen, die von außen kommen. Ich empfinde von daher Vorarlberg auch immer als sehr einladend.
Marke Vorarlberg: Ähnliche Werte haben wir auch in anderen Themenbereichen, die Vorarlberg prägen, festgestellt. Wir haben für die Marke daher folgende definiert: eigenständig, zusammenschaffend, anpackend, menschlich, kritisch, ghörig und ehrgeizig. In Summe ergibt das chancenreich.
Lichtinger: Da passt die positive Bildung ja perfekt hinein – positive Bildung, das ist die Zukunft!
Marke Vorarlberg: Danke für das Gespräch!