„Potenzialentfaltung bei Kindern und Jugendlichen braucht Erwachsene, die dies als Aufgabe betrachten können. In einer stark Fehler orientierten Schulwelt haben wir als Bildungs- und Erziehungsverantwortliche (und damit meine ich nicht nur Lehrpersonen, sondern auch Eltern) eine Fehlerbrille auf. D.h. wir fragen uns nicht, was hat unser Kind oder unsere Schülerin/unser Schüler richtig gut gemacht, sondern wir tendieren dazu, eher den Fehler zu sehen, das Defizit, im Bemühen darum, diesen auszumerzen.“, so Lichtinger. Es sei daher von Vorteil, wenn Erwachsene mit Verantwortung für Kinder einen Stärken basierten Erziehungsansatz verfolgen, ein Wachstumsdenken. Das bedeute allerdings nicht, dass wir dann nur das Positive und Gute sehen im Sinne des Think Pink der 1980er Jahre. „Es bedeutet vielmehr, dass wir in der Überzeugung handeln, dass in jedem Kind, in jedem Jugendlichen, in jedem Schüler, jeder Schülerin ein Potenzial steckt, das es zu entdecken und zu fördern gilt“, ist Lichtinger überzeugt.
Wenn Fehler passieren, mache die Bewertung den Unterschied: „Wenn ich als Erwachsener ausstrahle, dass da etwas NOCH nicht so richtig funktioniert hat, dann vermittle ich dem Lerner/der Lernerin nicht, dass er oder sie zu dumm oder zu untalentiert ist. Ich kommuniziere ihm bzw. ihr, dass er oder sie sich noch etwas anstrengen muss und dran bleiben muss, um zum Ziel zu kommen. Damit kann ich Anstrengungsbereitschaft und Durchhaltevermögen fördern, zwei Dinge, die entscheidend sind“, betont Lichtinger.
In der pädagogischen Forschung orientieren sich viele – auch Lichtinger – an dieser Stärkenorientierung oder Potenzialentfaltung. In der Stärkenforschung gibt es 24 weltweit kulturunabhängig gültige Charakterstärken, die wir Menschen prinzipiell alle in uns tragen. Bei jedem Menschen sind diese Stärken unterschiedlich ausgeprägt. Nach diesem Verständnis geht es darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Stärken weiterentwickelt werden können. Gelebte Werte wie Fairness, Authentizität oder Liebe zum Lernen sind hier entscheidend.
Hier entwickelt Lichtinger gemeinsam mit ihrem Team an der PH Vorarlberg beispielsweise ein Materialangebot für individuelles und gemeinsames Lernen von Kindern an einer sogenannten Lernleiter entlang. Lichtinger: „Als ich 2017 nach Vorarlberg kam mit dem Auftrag, das Institut für Schulentwicklung, Fort- und Weiterbildung an der PH Vorarlberg zu übernehmen und ein Begleitangebot für Schulentwicklung bereitzustellen, habe ich mich gefragt, was die Schulen und ihre Lehrpersonen wohl brauchen würden. Aus diesem Grund bin ich gerade in den ersten Jahren sehr viel an unterschiedlichen Schulen in Vorarlberg zu Besuch gewesen. Gezeigt hat sich mir ein Bild, das mich gefreut hat: Viele Lehrpersonen haben ein genuines Interesse an den Kindern und Jugendlichen und machen sich oft viele Gedanken um deren Wohlbefinden und Leistungen. Individuelle Förderung ist natürlich weiterhin der große Anspruch, dem es gerecht zu werden gilt, eine große Herausforderung. Es gilt hier aus meiner Sicht, die beschrittenen Wege konsequent und unermüdlich weiterzugehen.“
Foto: Mathias Fend